Wenn das Immunsystem Amok läuft; (NZZ am So)

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Brigitta
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Wenn das Immunsystem Amok läuft; (NZZ am So)

Beitrag von Brigitta »

© NZZ am Sonntag; 27.01.2008; Nummer 4; Seite 73

Wissen

Wenn das Immunsystem Amok läuft

Immer mehr Menschen leiden an Autoimmunkrankheiten. Ob Organe, Gelenke, Haut oder Drüsen - fast jeder Teil des Körpers kann dabei ins «friendly fire» der eigenen Abwehr geraten.

In den USA leiden 23,5 Millionen Menschen an Krankheiten, bei denen das Immunsystem die Fronten wechselt: Anstatt nur schädliche Keime zu attackieren, beginnt es plötzlich, auch körpereigene Zellen anzugreifen. An diesen sogenannten Autoimmunkrankheiten (s. Kasten) leiden dreimal mehr Menschen als an Krebs. Und: Die Zahl der Erkrankungen nimmt zu.

Normalerweise funktioniert das Immunsystem wie die Schutzsysteme eines Landes gegen fremde Eindringlinge. Mechanische Abwehrmassnahmen sind dabei die erste Barriere: Schweiss auf der Haut bremst das Wachstum körperfremder Organismen; Schleim in den Atemwegen bindet unerwünschte Eindringlinge. Gelangen Keime dennoch in die Blutbahn, so warten hier Makrophagen. Diese Fresszellen erkennen und vernichten die Erreger. Eine dritte Abwehrfront bildet eine Gruppe weisser Blutkörperchen, Lymphozyten namens T- und B-Zellen. Gleich Grenzwächtern sind sie beständig unterwegs und überprüfen die Identitätskarten sämtlicher Zellen im Blutkreislauf. Wer eine falsche Identitätskarte hat, wird als Eindringling entlarvt, attackiert und eliminiert. Die Lymphozyten müssen aber auch ständig bereit sein, Eindringlinge mit unbekannten Identitätskarten zu erkennen. Das Immunsystem produziert deshalb ununterbrochen Zellen und Moleküle mit neuen Identifikationsprogrammen.

Angesichts dieser Herausforderung ist die Gefahr gross, dass das Immunsystem plötzlich über das Ziel hinausschiesst. Im Falle der Autoimmunkrankheiten versagt die Führung der T-Zellen. Sie schickt Grenzwächter los, die falsch programmiert worden sind, was aber bei der internen Qualitätskontrolle nicht erkannt worden ist. Diese T-Zellen laufen Amok, es kommt zum «friendly fire», mit entsprechenden Folgen: Organe, Gelenke, Haut, Drüsen - jeder Bestandteil des Körpers kann in den Augen der Grenzwächter zum vermeintlichen Eindringling werden, den es zu vernichten gilt.

Was ist los mit dem Immunsystem? Beda Stadler, Leiter des Instituts für Immunologie der Universität Bern, antwortet darauf nur lakonisch: «Darüber kann man lange philosophieren - oder eben immunosophieren.» Das Immunsystem, «im Prinzip geradezu rassistisch gegen alles, was nicht das Eigene ist», verliert plötzlich seine Überzeugung. Doch weshalb? Darauf gibt es keine befriedigende Antwort. «Autoimmunität ist unser grösstes schwarzes Loch. Wir wissen noch sehr wenig», sagt Stadler.

Autoimmunkrankheiten sind seltsame Krankheiten, können sie sich doch auf unterschiedlichste Art zeigen und jeden Körperteil betreffen. Wie bei den meisten Krankheiten spielen genetische Faktoren und Umwelteinflüsse eine Rolle. Eine weitere Auffälligkeit: Besteht eine genetische Veranlagung, so bedeutet das nicht, dass die Kinder dieselbe Krankheit entwickeln wie ihre Eltern. Leidet die Mutter an rheumatischer Polyarthritis, so kann ihr Sohn am Sjögren-Syndrom erkranken, die Tochter an Vitiligo. Noch verwirrender: Nach einer ersten Autoimmunkrankheit bricht bei rund zwanzig Prozent der Betroffenen eine zweite aus. Beruhigend ist einzig, dass vererbbare Autoimmunkrankheiten eine ähnliche Eigenschaft wie Schläfer zeigen. Die genetische Veranlagung ist zwar vorhanden, aber die Krankheit muss nicht zum Ausbruch kommen. «Es gibt eine unbekannte Zahl von Menschen, die bis an ihr Lebensende nicht wissen, dass sie eine entsprechende Veranlagung haben», sagt Adriano Fontana, Leiter der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich.

Gifte und Kosmetika

Damit das Immunsystem aus dem Tritt gerät und die Krankheiten ausbrechen, braucht es ein zündendes Ereignis. Dieser Funke entsteht nicht im Innern des Körpers, sondern kommt aus der Umwelt. Viren und Bakterien können die T- und B-Lymphozyten zu Angriffen auf körpereigene Strukturen provozieren. Als mögliche Ursache gelten aber auch Stress, Medikamente, Umweltgifte und Kosmetika, ebenso bestimmte Berufe oder veränderte Essgewohnheiten. Ist das Immunsystem überfordert durch Einflüsse, für die es nicht programmiert wurde? Leidet es also an einer Art Burnout? Oder passiert vielmehr das Gegenteil: Ist es «funktionell gelangweilt», wie Fontana sagt, weil wir gegen zahlreiche Krankheiten geimpft sind und unser alltägliches Umfeld immer sauberer und keimfreier wird? Es gibt Beispiele für die Richtigkeit beider Thesen.

Für das Konzept der funktionellen Langeweile sprechen Versuche, die 2003 an der Universität von Iowa durchgeführt wurden. Hier gingen die Forscher quasi ins Mittelalter zurück und liessen an Morbus Crohn erkrankte Patienten Eier des bei Schweinen vorkommenden Peitschenwurmes schlucken. Ausgewählt wurden dabei nur Personen, die auf keine der konventionellen Therapien ansprachen.

Die Behandlung mit dem Holzhammer funktionierte, der Parasit holte das Immunsystem aus seinem konstanten Leerlauf heraus und brachte es wieder in den richtigen Takt. 21 von 28 Patienten waren danach ohne Symptome. Die Versuche wurden inzwischen an anderen Universitäten wiederholt - mit demselben Resultat.

Die Idee eines Burnouts lässt sich anhand mehrerer Autoimmunkrankheiten zeigen. Das Goodpasture-Syndrom betrifft vor allem Raucher, es attackiert ihre Nieren und Lungen. Menschen, die beruflich mit Silikonstaub in Kontakt kommen, leiden überdurchschnittlich oft an rheumatoider Arthritis. Jugendliche in städtischen Umgebungen entwickeln immer öfter einen Diabetes Typ 1, weil das Immunsystem verrückt spielt, und der systemische Lupus, der neben der Haut auch Nieren und Nervensystem angreift, wird wahrscheinlich durch Hilfsstoffe in Kosmetika - etwa Weichmacher in Lippenstiften - und die verstärkte UV- Strahlung begünstigt. So stellt Adriano Fontana fest, dass «südliche Destinationen für Winterreisen Lupus auslösen können»: Die Sonne trifft auf eine winterbleiche Haut und schädigt dabei die Zellen und ihre Erbsubstanz.

Autoimmunkrankheiten wie Lupus, multiple Sklerose oder Morbus Bechterew sind jedoch «nur das äussere Erscheinungsbild», sagt Beda Stadler. Die Symptome hätten sehr wahrscheinlich einen «common cause», einen gemeinsamen Ursprung. Dafür spricht, dass die vererbten Autoimmunkrankheiten sich beim Übergang von einer Generation zur nächsten in unterschiedlicher Ausprägung zeigen können. «Irgendwo gibt es eine Weiche, die falsch gestellt wird», meint Stadler. Hat der Zug das richtige Gleis einmal verpasst, so braucht es nur noch einen Auslöser, damit die T- und B-Lymphozyten bestimmte Körperteile ins Visier nehmen.

Antikörper-Therapie

Als möglicher «common cause» kommt dabei ein Gen namens Foxp3 in Frage. Es kontrolliert selbst rund 30 Gene, die nach heutigen Erkenntnissen entscheidend am Ausbruch von Autoimmunkrankheiten beteiligt sind. Ebenso für die These des «common cause» spricht die Tatsache, dass sich das Immunsystem durch die Gabe eines gentechnisch hergestellten Antikörpers - der an ein Molekül mit dem Namen CD20 andockt - offenbar so beeinflussen lässt, dass gleich mehrere Autoimmunkrankheiten bekämpft werden können. Der CD20-Antikörper wird eines Tages möglicherweise wie ein Breitbandantibiotikum wirken. In klinischen Studien bereits getestet wurde der Antikörper als Mittel gegen rheumatoide Arthritis, allerdings um den Preis schwerer Nebenwirkungen.

Die Forschung über das verrückt spielende Immunsystem läuft jedoch auf Sparflamme. Das hat damit zu tun, dass Autoimmunkrankheiten erst seit rund zehn Jahren als Krankheiten mit gemeinsamem Hintergrund erkannt werden. Zudem werden Autoimmunkrankheiten in den medizinischen Statistiken nicht gesondert aufgeführt, und auch die Krankenkassen verfolgen ihre Entwicklung nicht. Der Mangel ist mehr als eine Lücke. Er verhindert, dass eine beunruhigende Tatsache auf den Tisch kommt: Autoimmunkrankheiten gehören inzwischen zu den zehn häufigsten Todesursachen.

Autoimmunkrankheiten und ihre Symptome Verschiedene Körperteile können betroffen sein

Christian Schmidt

Heute werden rund 80 Krankheiten mit teils sehr unterschiedlichen Symptomen als Autoimmunkrankheiten bezeichnet:

Multiple Sklerose attackiert das Zentralnervensystem;
bei Diabetes Typ 1 versagen die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse;
Vitiligo und Psoriasis zeigen ihre Symptome auf der Haut; bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa entzündet sich der Darm, die chronische Gastritis betrifft den Magen.
Eine der am weitesten verbreitete Autoimmunkrankheit ist dabei Hashimoto Thyreoiditis, die sich gegen die Schilddrüse richtet. Frauen sind davon sechs- bis zehnmal mehr betroffen. Als Ursache werden hormonelle Umstellungen wie die Zeit nach einer Entbindung und die Wechseljahre angenommen.

Morbus Basedow geht auf eine Überproduktion der Schilddrüse zurück. Morbus Bechterew gehört zu den chronisch-entzündlichen rheumatischen Erkrankungen und betrifft vorwiegend die Wirbelsäule.
Zu diesen gehören auch das rheumatische Fieber und die rheumatoide Arthritis, beide betreffen u. a. das Bindegewebe der Gelenke.
Zuletzt geändert von Brigitta am 02.03.2008 12:50, insgesamt 3-mal geändert.
Agathe
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Beitrag von Agathe »

Liebe Brigitta! Vielen herzlichen Dank, dass Du diesen interessanten Artikel ins Forum gestellt hast! So eine ausgiebige Beschreibung habe ich noch nirgendwo gelesen! Es zeigt doch, dass unsere Krankheit immer bekannter wird und man uns langsam Ernst nimmt! Einganz, ganz herzliches Dankeschön an Dich! Liebe Grüsse: Agathe[/code]
Brigitta
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Beitrag von Brigitta »

Ein kleiner Nachtrag meinerseits:

Während des SjS-Treffens in Leipzig wurde bekannt, dass unter 1000 Patienten mit dem SjS nur 2% diese Krankheit weitervererben können.
Unter 1000 nicht SjS-Betroffenen sind es 1%. Wie ihr also sehen könnt, müsst ihr euch keine allzugrossen Sorgen darum machen.

Mit lieben Grüssen

Brigitta

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